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Interview mit der NZZ vom 22.03.2021

22.03.2021 - Interview

Sie sind vor einem halben Jahr von Brüssel nach Bern gekommen. Wie nehmen Sie die Debatte über die EU in der Schweiz wahr?

Ich habe mein Beglaubigungsschreiben im September 2020 übergeben, kurz vor der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative. Am Sonntag bin ich zur Bäckerei gegangen. Vor dieser stand ein Werbeplakat mit einem dicken EU-Hintern, der sich auf eine zerbrechliche Schweiz setzte. Das hat mich schockiert. Ich kenne das Land aus meinen Jahren in Genf gut. Dass die EU aber derart dämonisiert wird, hatte ich so nicht in Erinnerung. Zum Glück hat sich das Stimmvolk klar gegen die Begrenzungsinitiative und für den bilateralen Weg ausgesprochen.

Abstimmungskämpfe sind polemisch. Trotzdem: Nehmen Sie die Debatte in der Schweiz über die EU derart holzschnittartig war?

Natürlich gibt es auch differenzierte Diskussionen. In der urbanen Bevölkerung hat die Begrenzungsinitiative viele Junge mobilisiert, die sich stark engagiert haben. Doch die breite Stimmung gegenüber der EU empfinde ich als negativ. In gewissen Medien und sozialen Netzwerken wird diese als Monster dargestellt. Ich fühle mich auch persönlich betroffen, da ich in Brüssel für die EU tätig war. Ich habe gesehen, dass ihre Institutionen für die Bürger hervorragende Arbeit leisten. Die EU ist kein Monster.

Die EU hatte schon ein besseres Image. In der ersten Phase der Corona-Pandemie dominierten nationalstaatliche Reflexe, und jüngst folgte der Streit um Impfstoffe.

Für die Gesundheitspolitik sind primär die Mitgliedstaaten zuständig. In der ersten Phase der Krise gab es protektionistische Reflexe. Die Unsicherheit war gross und die Bilder aus Bergamo waren schockierend. Die EU setzte sich aber stets für das Funktionieren des Binnenmarkts ein und nahm die Schweiz von Exportbeschränkungen für Schutzmaterial oder Impfstoffe aus. Bei der Beschaffung von Impfstoffen kam es zu Lieferproblemen, in vielen Ländern der Welt, wie auch in der EU und der Schweiz.

Das Rahmenabkommen steht vor dem Aus. Was ist aus Ihrer Sicht falsch gelaufen?

Ich nehme die Diskussion in der Schweiz als sehr ideologisch wahr. Mich hat überrascht, dass das Thema fast sämtliche Parteien spaltet. In der Schweiz scheinen mir sehr viele zu erwarten, dass die EU weiter nachgeben muss. Dadurch entsteht wiederum in der EU vielfach der Eindruck, dass die Schweiz als reiches Land Bedingungen für die Teilnahme am Binnenmarkt aushandeln will, die nicht einmal EU-Mitglieder haben – und dann auch noch die Kohäsionsmilliarde zurückhält.

Der Bundesrat verlangt beim Rahmenabkommen verbindliche Nachbesserungen. Sehen Sie noch Spielraum?

Die EU betrachtet das Abkommen nach vier Jahren als fertig verhandelt. Die Schweiz hat es nicht paraphiert, aber den Text veröffentlicht und eine Konsultation gestartet. Das führte dazu, dass der Vertrag zerredet wurde und Partikularinteressen im Vordergrund standen. Im August 2019 schrieb der Bundesrat der EU, dass es bei drei Punkten noch Klärungsbedarf gebe. Mit dieser Erwartung ging die EU-Kommission in die jetzt laufenden Gespräche mit der Schweiz. Darin sieht sich die EU getäuscht.

Wie meinen Sie das?

Die Schweiz strebt Nachverhandlungen an, um die Immunisierung von einzelnen Kernbestandteilen des Abkommens zu erreichen. Wenn man diese aber einfach herausnimmt, würde der ohnehin schlanke Vertrag entwertet. Ich glaube nicht, dass dies zielführend ist. Präzisierungen sind möglich, aber der Vertrag kann nicht in dieser Weise nachverhandelt werden.

Selbst wenn es noch Einigung gibt, hätte das Rahmenabkommen einen schweren Stand. In den letzten Monaten haben die grundsätzlichen Einwände zugenommen.

Wenn wir von Souveränität sprechen, dann müssen wir doch diskutieren, was diese ausmacht. Die Schweiz hat in den Verhandlungen Zugeständnisse gemacht, aber sie hat dafür auch etwas bekommen. Nicht die EU möchte der Schweiz beitreten, sondern die Schweiz will in gewissen Sektoren am EU-Binnenmarkt teilnehmen. Wer das will, muss sich an die Regeln des EU-Binnenmarktes halten. Ein Nichtmitglied der EU kann nicht bessere Konditionen als die Mitgliedsstaaten für sich reklamieren.

Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU. Im Vergleich mit den heutigen Bilateralen wäre das Rahmenabkommen ein qualitativ bedeutender Integrationsschritt.

Die Schweiz übernimmt bereits seit Jahren viel EU-Recht, mit den bilateralen Abkommen und mit dem autonomen Nachvollzug. Sonst hätte sie gar nicht 20 Jahre sektoriell am Binnenmarkt teilnehmen können. Die Schweiz könnte mit dem Rahmenabkommen immer noch entscheiden, dass sie eine Rechtsanpassung nicht übernehmen will. Die EU dürfte zwar Ausgleichsmassnahmen verhängen, doch ein Schiedsgericht würde überprüfen, ob diese verhältnismässig sind. Diese Möglichkeiten haben EU-Mitgliedsstaaten nicht. Zudem würde die Schweiz bei der Ausarbeitung des fraglichen EU-Rechts Mitgestaltungsmöglichkeiten erhalten, die sie heute nicht hat.

Würde es bei den Ausgleichsmassnahmen um Zahlungen gehen, wie kolportiert wird?

Nein. Aber die EU könnte der Schweiz im betroffenen Sektor zum Beispiel Auflagen für Exporte machen.

Am Anfang der Diskussion über das Rahmenabkommen standen gewisse flankierende Massnahmen der Schweiz wie die achttägige Voranmeldefrist, an denen sich die EU stört. Wie akut ist dieses Problem?

Die Schweiz hat die flankierenden Massnahmen unilateral eingeführt. Das ist eigentlich vertragswidrig, die EU hat dies aber hingenommen. Die Flankierenden sind für Unternehmer aus Deutschland, Frankreich, Italien oder Österreich ein Ärgernis. Dass die Voranmeldefrist für Dienstleister von acht auf vier Tagen reduziert wird, wie es der Rahmenvertrag vorsieht, ist eigentlich eine Marginalie. Manchmal fühle ich mich an den Schlussspurt der Verhandlungen über das Brexit-Handelsabkommen erinnert, wo plötzlich die Fischerei, die gesamtwirtschaftlich ganz sicher nicht zentral ist, zum zentralen Streitpunkt wurde.

Aber die betroffenen Firmen hätten bis vor Bundesgericht klagen können, wenn sie sich diskriminiert fühlen.

Das primäre Interesse der Wirtschaft ist, Aufträge zu bekommen und zu erledigen. Das sind pragmatische Leute, die nicht bis vor das Bundesgericht ziehen wollen, um eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen.

Was passiert bei einem Scheitern des Rahmenabkommens?

Der Ball liegt im Moment klar bei der Schweiz. Es wird zwischen der Schweizer Chefunterhändlerin Staatssekretärin Livia Leu und Stéphanie Riso, der stellvertretenden Kabinettschefin der Kommissionspräsidentin, noch eine sechste Gesprächsrunde geben. Uns besorgt, dass die offenen Punkte angesprochen worden sind, aber offenbar nicht über Texte verhandelt wird. Wir kennen keine Vorschläge der Schweiz. Dabei muss sich diese fragen, was sie eigentlich will und wie weit sie am Binnenmarkt teilnehmen möchte. Diese Entscheidung kann ihr die EU nicht abnehmen.

Aber was passiert ohne Rahmenabkommen?

Die EU-Kommission hat klargemacht, dass es ohne Rahmenabkommen keine neuen Marktzugangsverträge und keine Aktualisierungen der bestehenden Abkommen mehr geben kann. Diese würden schleichend erodieren, was zu wirtschaftlichen Einbussen führen würde. Es würde mehrere Jahre dauern, bis die Auswirkungen auf die verschiedenen Branchen klar wären. Der erste Fall ist das Abkommen zum Abbau von technischen Handelshemmnissen (MRA) bei Medizinalprodukten.

Aber die Aktualisierung wäre auch im Interesse der deutschen Wirtschaft. Gäbe bei einem Scheitern des Rahmenabkommens Spielraum für eine Lösung?

Beim MRA gab es wegen der Corona-Krise bereits eine Fristverlängerung. Die Schweiz hat zwar inzwischen alle gesetzgeberischen Massnahmen getroffen, die es für eine Aktualisierung benötigt. Aber für die EU-Kommission würde es schwierig, hinter ihre Ankündigung zurückzufallen. Deutschland mit seiner medizinaltechnischen Industrie wäre natürlich ebenfalls betroffen. Falls das MRA nicht aktualisiert wird, würden wir uns dafür einsetzen, dass es längere Übergangsfristen für bestehende Zertifizierungen gibt. Für neue Produkte würde es aber komplizierter und teurer. Schweizer Firmen müssten in der EU eine Zertifizierungsstelle suchen.

Mangels Gesundheitsabkommen mit der EU wollen die Schweiz und Deutschland ihre Corona-Apps bilateral kombinieren. Wann ist es soweit?

Das Robert-Koch-Institut und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) haben eine bilaterale Vereinbarung abgeschlossen. Ich gehe davon aus, dass diese zügig umgesetzt wird. Es ist eine pragmatische Lösung zum Nutzen der Grenzgänger, Reisenden oder Einkaufstouristen.

Im Umgang mit der Pandemie setzt die Schweiz im Vergleich zu Deutschland auf eine liberalere Linie. Wie erklären Sie sich, dass Berlin lange viel weniger Hemmungen hatte, die Massnahmen zu verschärfen?

Wir waren sehr besorgt, als ab dem November die Infektionszahlen in der Schweiz deutlich über jenen in Deutschland lagen. In den vergangenen Wochen hat es wieder eine Angleichung gegeben. Wir beobachten, dass sich die Schweiz auch an den Massnahmen in der EU und in Deutschland orientiert. Die Schweiz ist in Brüssel auf Einladung Berlins beim Krisenreaktionsmechanismus dabei. Dort tauscht man sich über die Pandemie aus. Mit den Grenzkantonen läuft die Koordination sehr gut.

Dass die Schweiz die Skigebiete offenliess, stiess in den Nachbarländern auf Kritik. Waren diese Ängste vor Infektionsherden in den Alpen übertrieben?

Wir erinnern uns noch gut an den Ausbruch in Ischgl vor einem Jahr. Man fährt zwar draussen Ski, aber in der Gondel oder beim Anstehen hält man sich sehr eng beieinander auf. Deshalb darf man das Infektionsrisiko beim Skifahren nicht unterschätzen. Aber Deutschland hat der Schweiz nicht gesagt, sie solle ihre Skigebiete schliessen.

Wer aus der Schweiz nach Deutschland zurückkehrt, muss immer noch 10 Tage in Quarantäne. Sind Lockerungen zu erwarten?

Es gibt ja bereits die Möglichkeit, mit einem negativen PCR-Test die Quarantäne vorzeitig zu beenden. Wir haben viele binationale Ehen und viele Deutsche, die in der Schweiz wohnen, aber Familie in Deutschland haben – und umgekehrt. Wir müssen darauf achten, dass Besuche möglich bleiben.

Die Debattenkultur in Deutschland ist hitziger als jene in der Schweiz. Wie erklären Sie sich das?

Wenn ich Arena schaue, dann steht diese Sendung einer Anne-Will-Show punkto Hitzigkeit in nichts nach - im Gegenteil. Dagegen gibt es in der Schweiz – bedingt durch das Konkordanzsystem – eine andere Diskussionskultur. In Deutschland werden die Konflikte viel offener ausgetragen. Entscheidungen laufen – in puncto Nachvollziehbarkeit - im deutschen Regierungssystem transparenter ab. Wir erfahren in der Schweiz beispielsweise kaum, wie die Meinungsbildung im Bundesrat verläuft.


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