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Interview mit Blick vom 05.10.2020
Trotz aller Skepsis in der Schweiz: Der neue deutsche Botschafter in Bern glaubt an das Rahmenabkommen. Und Michael Flügger sagt, dass sich Deutschland in Brüssel für die Schweiz starkmachen werde.
Sermîn Faki
Es ist kalt in der Residenz. Als Michael Flügger (60), neuer deutscher Botschafter in Bern, BLICK empfängt, stehen alle Fenster weit offen. „Damit sicher keine gefährlichen Aerosole mehr herumschwirren“, erklärt der Hausherr. Das Gesprächsklima ist dennoch alles andere als frostig. Kein Wunder, denn mit dem Rahmenabkommen steht auch ein heiss umstrittenes Thema an.
BLICK: Herr Botschafter Flügger, Sie sind seit knapp zwei Monaten deutscher Botschafter in der Schweiz. Ihr erster klassischer Botschafterposten ist nicht gerade die aufregendste Station, oder?
Michael Flügger: Für diesen Posten habe ich mich aktiv beworben. Mein Mann stammt aus Genf. Nach den langen Jahren, in denen wir durch halb Europa gependelt sind, hatte er den Wunsch, in die Schweiz zurückzukehren. Als der Posten in Bern frei wurde, packten wir die Chance. Und die Zeit hier hat ja durchaus spannend begonnen mit der Abstimmung über die Begrenzungs-Initiative. Ich gehe davon aus, dass aufregende Jahre auf mich warten.
Wenn Sie persönliche Beziehungen zum Land haben: Wie steht es mit Schweizerdeutsch?
Das Einzige, was ich sagen kann, ist: „Hesch dini Ovo hüt scho gha?“ Das stand an der Gondel im Skigebiet Lenk, wo ich als Jugendlicher Ski fahren gelernt habe.
Wie sind Sie zur Diplomatie gekommen?
Mein politisches Erweckungserlebnis hatte ich mit 13 Jahren, als mich meine Eltern an die deutsch-deutsche Grenze brachten. Ich wusste natürlich, dass Deutschland geteilt war, aber in meinem jugendlichen Leben spielte das keine Rolle. Als ich dort stand, knapp eine Autostunde von Hamburg entfernt, war ich schockiert. Dass da eine Armee steht und die eigene Bevölkerung mit Waffen davon abhält, das Land zu verlassen! Das hat mich politisiert. Und als ich später in Genf studiert habe, ist der Wunsch entstanden, diesen beruflichen Weg einzuschlagen.
Vor einer Woche jährte sich die deutsche Einheit zum 30. Mal. Was bedeutet es Ihnen?
Sehr viel. Meine Mutter floh mit 15 Jahren aus der DDR – das hat unsere Familie natürlich geprägt. Ich kann mich erinnern, dass ich an Silvester 1989 von Hamburg nach Berlin fuhr und auf der Mauer feierte. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke. Dieses Gemeinschaftsgefühl gab es in Deutschland danach nur noch einmal: bei der Fussball-WM 2006.
Wie viel ist davon noch übrig? Deutschland macht einen zerrissenen Eindruck.
Man darf das nicht überbewerten. Fünf Millionen Menschen haben Ostdeutschland seit 1990 verlassen, drei Millionen Westdeutsche sind in den Osten gezogen! Für junge Deutsche spielt es keine Rolle mehr, woher jemand kommt. Die, die man lautstark hört, sind eine verschwindende Minderheit.
Dennoch ist die AfD stärker im Osten, Rassismus verbreiteter. Das spricht doch Bände.
Die AfD kommt eigentlich aus dem Anti-Europäismus. 2015 hat sie im Zuge der Flüchtlingskrise dann ein neues Thema besetzt und konnte so ostdeutsche Wähler einfangen. Auch hier macht mir die Jugend Mut: Populismus verfängt bei ihr weniger. Das zeigen meine Erfahrungen, wenn ich in Schulen bin.
Bevor Sie nach Bern kamen, waren Sie fünf Jahre in Brüssel. Was haben Sie dort gemacht?
Ich habe für Deutschland auf multilateraler Ebene unterschiedliche sicherheitspolitische Themen verhandelt. Zuletzt ging es etwa um die EU-Sanktionen gegen Belarus. Hier in Bern bin ich selbstbestimmter und kann eigene Akzente setzen.
Welche Akzente würden Sie gerne setzen?
Da steht das Rahmenabkommen an erster Stelle. Es betrifft Deutschland als Nachbarstaat auch in besonderer Weise. Die Schweiz und Deutschland profitieren stark vom bilateralen Weg. Deshalb unterstütze ich den Prozess sehr.
Wie?
Ich versuche zuerst einmal, den Schweizern gut zuzuhören – und auch die deutsche Position zu erklären. Und das wohl noch einige Zeit. Ich gehe nicht davon aus, dass der Bundesrat in den nächsten vier Wochen seine Unterschrift unter das Abkommen setzt.
Die Frage ist, ob es überhaupt dazu kommt. Die Skepsis in der Schweiz ist gewachsen.
Skepsis ist dann berechtigt, wenn sie sich auf die Tatsachen beruft. Ich glaube, wir sollten deshalb genau hinsehen. Ich frage mich: Haben die Wortführer die 22 Artikel des Abkommens wirklich gelesen? Dass die Beihilfen für Kantonalbanken abgeschafft werden müssen, steht da nicht. Nach Abschluss der Verhandlungen waren alle Seiten zuversichtlich – und heute sagt der CVP-Präsident, das Abkommen sei tot. Ich möchte nicht so schnell aufgeben.
Nun, die CVP hat schon Anfang 2019 Zweifel geäussert – namentlich an der Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Dass das jetzt wieder auf den Tisch kommt, erstaunt mich. Die Rolle des EuGH ist sehr beschränkt: Er soll nur herbeigezogen werden, wenn eine Streitfrage EU-Recht betrifft. Jetzt zu behaupten, der EuGH würde der Schweiz alles befehligen, ist einfach Unsinn. In dieser Abwehrhaltung geht vergessen, wozu das Abkommen dient.
Nämlich?
Die bilateralen Verträge sind jetzt 21 Jahre alt. In dieser Zeit hat sich die Welt verändert. Dass die bilateralen Beziehungen auf dem Stand von 1999 sind, kann nicht im Interesse der Schweiz sein. Klar kann man noch mal neu verhandeln. Nur, gibt es dann eine bessere Lösung? Ich bezweifle das. Doch erst einmal wartet die Kommission in Brüssel auf eine Antwort des Schweizer Bundesrats. Er muss klar sagen, was er will.
Wäre Brüssel überhaupt bereit, nochmals über alles zu reden?
Neuverhandlungen über den Kerntext sind unrealistisch. Über alles andere kann man sprechen. Dafür wird sich Deutschland einsetzen. Und ich denke, dass die Kommission die direkten Nachbarn der Schweiz auch hören wird. In Brüssel sind Nachverhandlungen gang und gäbe, zu vielen Verträgen werden Erklärungen, Anhänge, sogenannte Side Letters, verabschiedet. Es gibt jede Menge Möglichkeiten, rechtliche Absicherungen zu treffen.
Besonders grosse Bedenken gibt es im Hinblick auf die Unionsbürgerrichtlinie. Die Befürchtung ist, dass uns die EU über den Tisch ziehen und zwingen wird, allen EU-Bürgern Sozialhilfe zu zahlen – egal, ob sie jemals in der Schweiz gearbeitet haben.
Eine wahre Geschichte: Ein Italiener hatte in München jahrelang ein Restaurant. Er zahlte seine Steuern, schuf Arbeitsplätze. Aber als Selbständiger zahlte er nicht in die Sozialwerke ein. Als er pleiteging und auf Sozialhilfe angewiesen war, wies ihn München nach Italien aus. Um solche Fälle geht es bei der Unionsbürgerrichtlinie. Aber sicher nicht darum, dass jeder in die Sozialhilfe einwandern kann. Wenn das die Sorge ist – darüber kann man sicher nochmals reden.
Die Schweiz fühlt sich im Ausland unverstanden. Die direkte Demokratie und ihre besondere Mechanik scheinen irgendwie nicht anzukommen. Woran liegt das?
Es ist in der Tat einzigartig, wie man in der Schweiz zu politischen Entscheiden kommt – und das ist sicher nicht immer einfach zu vermitteln. Nur, die Schweiz versteht die EU auch nicht immer. Sie könnte insbesondere mehr Verständnis für jene jüngeren EU-Mitglieder aus Osteuropa zeigen. Als Vollmitglieder müssen sich diese komplett dem Regime des Binnenmarktes öffnen. Und dann kommt die Schweiz und sagt: „Wir wollen kompletten Zugang zum Binnenmarkt, aber dessen Regeln übernehmen wir nur à la carte.“ Keiner will der Schweiz etwas aufzwingen. Wenn die Stimmbürger es anders haben wollen, können sie es anders haben. Man muss dann eben auch bereit sein, den Preis dafür zu zahlen.
Sowohl die EU als auch die Schweiz haben gut ohne Rahmenabkommen gelebt – und beide haben profitiert. Hat sich das Recht weiterentwickelt, wurden die betroffenen Verträge angepasst ...
... was sehr mühsam ist.
Aber es funktioniert.
Die Kommission war da sehr klar: Es gibt keine neuen Abkommen mehr. Die bestehenden Verträge bleiben bestehen, werden aber nicht mehr aktualisiert. Es wird immer mehr Bereiche geben, in denen die Zertifizierung von Schweizer Produkten nicht mehr so einfach ist. Und ich fürchte, dass Schweizer Exportunternehmen dann überlegen, Standorte in die EU zu verlagern.
Textbox:
Der Deutsche aus Wien
Michael Flügger (60) wurde in Wien geboren. Eigentlich wollten seine Eltern von Österreich weiter nach Südafrika, aber nach der Geburt des Sohnes kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Flügger studierte Jura – unter anderem in Genf – und wurde Diplomat. Seit September ist der Teetrinker deutscher Botschafter in der Schweiz. Er lebt mit seinem Mann in Bern und verbringt noch viel Zeit in Baumärkten und Elektronikläden, zum Beispiel um Adapter für die deutschen Stecker zu kaufen.